Dr. rer. nat. Rainer Rumpel
Oktober 2023
Begriffsgeschichte
Den Begriff der Dekonstruktion gab es im 20. Jahrhundert (vor allem in der Architektur) schon vor der Verwendung durch den französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004). Historisch knüpft der Begriff der Dekonstruktion unter anderem an Martin Heideggers Verwendung der Begriffe „Konstruktion“ und „Destruktion“ (Sein und Zeit, 1927) und deren methodischer Verschränkung an. Derrida verwendete den Begriff „Dekonstruktion“ erstmals 1967 (Die Stimme und das Phänomen), und zwar im Kontext der Philosophie.
„Dekonstruktion“ nach Derrida ist kein Instrumentarium, kein Regelwerk, keine Methode. Aber was ist sie dann?
„Dekonstruktion“ nach Derrida kann man nicht denken ohne „différance“. Es ist ein von Derrida geschaffenes Kunstwort (Neologismus), welches die strukturalistische différence von Signifikant (Bezeichner) und Signifikat (Bezeichnetes) – gemäß Saussures Semiotik, siehe Abbildung –
aufnimmt und eine Beziehung zu dem französischen Wort „différer“ herstellt. Dieses hat zwei verschiedene Bedeutungen. Das Wort beschreibt unter anderem die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben (zeitliche Perspektive). Derrida nennt das diesbezügliche Substantiv „Temporisation“. Der Neologismus différance soll dabei sowohl den Vorgang der Verräumlichung als über-tragene (altgr.: δια-φέρειν) Bedeutung, als auch den Vorgang der Verzeitlichung eines Begriffs bzw. eines Zeichens einschließen.
Was ist der Kern von Derridas Philosophie?
Man kann die Antwort eigentlich in einem Wort geben: Différance! Was soll das bedeuten? Derrida versteht Différance als Denkweise. Différance ist der zentrale Begriff (besser gesagt der „Clou seiner Konzeption“) seiner Philosophie, von der Derrida behauptet, dass sie kein Begriff ist, sondern das Spiel des fortwährenden „Sich-Unterscheidens“ durch Aufschübe und Widersprüche und des „gegenseitigen Verweisens“ der Signifikanten aufeinander. Das Spiel der Différance hat kein erkennbares Zentrum und keine klar auszumachende Hierarchie. Bedeutung ist von daher immer „relational“, niemals absolut. Sein philosophisches Konzept der Différance entwickelt sich nicht „nach einem einfachen Prinzip, nach Postulaten, Axiomen oder Definitionen verfährt“ („Die différance“, 1990). Und kurz danach heißt es dort dann noch über sein philosophisches Konzept …
Mit diesem Ansatz steht Derrida außerhalb der bisherigen Philosophiegeschichte. Als Postulate versteht Immanuel Kant (1724-1804) Annahmen, die von der Vernunft gefordert sind und die notwendigen Voraussetzungen für den Gebrauch sowohl der theoretischen als auch der praktischen Vernunft handelt. Postulate sind diejenigen Annahmen oder Voraussetzungen, unter denen der Vernunftgebrauch erst möglich ist.
Derridas Différance-Konzept ist also so etwas wie eine Anti-Philosophie im Sinne der klassischen Philosophie. Das wird besonders deutlich, wenn wir einem der großen Pioniere der Philosophie, Aristoteles, nachspüren. Wissenschaftliche Erkenntnis besteht ihm zufolge in der schrittweisen Ableitung („Deduktion“) von wahren Aussagen aus gewissen ersten Prinzipien, die von Aristoteles als „Axiome“ bezeichnet werden. Gemäß Aristoteles sind die vernunftbegabten Lebewesen dadurch besonders ausgezeichnet, dass sie in der Lage sind, sich Ziele zu setzen. Es sind „teleologische Wesen“. Auf dieses Zielsetzen verzichtet Derrida.
Im engeren Sinne betreibt Derrida mit der Dekonstruktion nicht Philosophie, sondern, wie er selbst sagt, ein Spiel mit Begriffen und deren Relationen, man könnte auch sagen eine linguistische Spielerei. Sein „Axiom“ (er würde es nicht so bezeichnen) ist das Konzept der Différance, das er als gültig ansieht.
Dekonstruktion und Hermeneutik
Die Hermeneutik (altgriechisch ἑρμηνεύειν hermēneúein, deutsch ‚erklären‘, ‚auslegen‘) ist die Theorie der Interpretation von Texten, egal ob philosophischer, theologischer oder politischer Art. Als Wissenschaftstheorie wurde sie hauptsächlich von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) eingeführt. Sie geht davon aus, dass die zu untersuchende Welt, zu der Texte einen direkten Zugang darstellen, eine sinnhafte Struktur besitzt. Auf diese Grundannahme verzichtet die Dekonstruktion (siehe oben).
Gemeinsam gehen beide Ansätze davon aus, dass
- Texte mehrdeutig sind,
- eine veränderliche Bedeutung haben und
- deren Bedeutung vom Kontext abhängig ist.
Die Hermeneutik betont eher den kulturellen und historischen Kontext, während die Dekonstruktion eher den sprachlichen Kontext heranzieht. Die Hermeneutik setzt auf die „Rekonstruktion“ des Textes, zielt also auf die ursprüngliche Bedeutung des Textes ab, während die Dekonstruktion die ursprüngliche Bedeutung von Texten in Abrede stellt.
Dekonstruktion als Methode
Man wird Derrida nicht gerecht, wenn man Dekonstruktion als philosophische oder linguistische Methode bezeichnet, und er distanziert sich von dieser Sichtweise. Er beabsichtigt keine Technik der Texterklärung, sondern eher ein Denkkonzept zur Texterklärung (wobei der Begriff „Text“ auch Gesprochenes umfasst).
Die Methode der Dekonstruktion ist ein kritisches Hinterfragen und Auflösen eines Textes im weiteren Sinn. Sie wird oft auch als Dekonstruktivismus bezeichnet. Ein zentraler Protagonist dieser Methode war Paul de Man (1919-1983) mit seiner „Yale Critics“, der amerikanische Variante der Dekonstruktion (siehe „Allegorien des Lesens“, 1979). Seine dekonstruktivistische Interpretationsmethode basiert auf den Ideen von Derrida. Begriffe werden in Frage gestellt und – bei Beachtung des Kontexts – versteckte Bedeutungen gesucht. In Abgrenzung zur Hermeneutik wird nicht nach ursprünglicher Bedeutung gesucht.
Dekonstruktion in Christentum und Theologie
Dekonstruktive Theologie (siehe John Caputo, Radikale Hermeneutik, 1987) zielt darauf ab, die Widersprüche und Paradoxien in religiösen Texten (Christentum, Judentum usw.) aufzudecken und zu untersuchen. Die Anwendung der Dekonstruktion in der Theologie hinterfragt und erweitert die Bedeutung von religiösen Texten, indem sie die Grenzen traditioneller Interpretationen überschreitet.
In christlichen Kreisen hat sich in den letzten Jahren der Begriff „Dekonstruktion“ weitgehend ohne Reflexion von Derridas Theorie durchgesetzt, um Prozesse zu bezeichnen, bei denen Christen ihren Glauben hinterfragen und sich von bestimmten Glaubensüberzeugungen trennen. Postevangelikalismus ist ein Begriff, der sich auf eine Bewegung ehemaliger Anhänger des Evangelikalismus bezieht, die sich aus theologischen, politischen oder kulturellen Gründen vom evangelikalen Christentum distanziert haben Die meisten, die sich als postevangelikal bezeichnen, sind immer noch Anhänger des christlichen Glaubens in irgendeiner Form.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen
- Derridas dekonstruktives Konzept verzichtet auf Prinzipien, Axiome und Endzweck (telos) im Sinne der klassischen Philosophie und setzt stattdessen auf den Neologismus „Différance“. Sie verwirft damit Eckpfeiler der Philosophie von Aristoteles bis Kant.
- Différance wird verstanden als Sprachspiel mit Begriffen, bei dem davon ausgegangen wird, dass Sprache und Texte keine festen Bedeutungen haben, sondern dass ihre Bedeutungen durch die Art und Weise, wie sie verwendet werden bzw. in Beziehung stehen, temporär konstruiert werden. Texte besitzen laut Derrida keine absolute Identität, keinen absoluten Sinn. Folglich ist es nicht relevant, die „ursprüngliche Aussage“ in Texten zu erforschen. Bei Umsetzung des Différance-Konzepts von Derrida wird es also nur temporär gültige Ergebnisse bei der Begriffsanalyse geben.
- Während das wissenschaftstheoretische Konzept der Hermeneutik (Lehre von der Auslegung und Erklärung eines Textes) von einem „geraden“, eindeutig erfassbaren Sinn ausgeht, ist der Sinn in der Dekonstruktion „ungerade“ und vielschichtig.
- Die dekonstruktivistische Methode (Dekonstruktivismus) entspricht nicht der Intention Derridas, hat aber das Konzept von Derrida aufgegriffen. Sie hat sich aber über die Yale School (de Man) etabliert. Sie wird unter anderem auf Texte in der Philosophie, Literatur, Theologie und Politik angewendet.
- Da der Dekonstruktivismus keine endgültigen Antworten oder festen Regeln liefert, sondern eher eine Methode des kritischen Denkens ist, können die Ergebnisse je nach individueller Perspektive unterschiedlich (subjektiv) ausfallen. Einige mögen die Dekonstruktion als befreiend empfinden, da sie traditionelle Ansichten in Frage stellt. Andere könnten sie als verwirrend oder sogar als Bedrohung für etablierte Ordnungen und Systeme empfinden.
- Es ist wichtig anzumerken, dass die Subjektivität der Ergebnisse nicht bedeutet, dass sie beliebig oder willkürlich sind. Die Dekonstruktion basiert auf einer sorgfältigen Analyse von Texten und Konzepten sowie auf einem Verständnis der historischen und sozialen Kontexte. Dennoch bleibt Raum für verschiedene Interpretationen und Perspektiven, was zu subjektiven Ergebnissen führen kann.
- Dekonstruktive Theologie hat zum Ziel, die Widersprüche und Paradoxien in religiösen Texten aufzudecken und zu untersuchen. Die damit verbundene theologische Methode hinterfragt und erweitert die Bedeutung von religiösen Texten nach dem Prinzip der „Différance“.
- Dekonstruktive Methodik und das Konzept der Différance nach Derrida lassen sich nicht voneinander trennen, denn die Grundideen der Methodik stammen aus Derridas Dekonstruktionsprinzip.
Persönliche Einschätzung
Dekonstruktion als philosophisches Konzept
Derrida versteht Dekonstruktion als die kritische Infragestellung des. Systems binärer Begriffe (Anwesenheit / Abwesenheit, Geist / Körper, Kultur / Natur etc.). Das ist nichts Neues in der Philosophie. Sehr deutlich hat das Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in seiner Dialektik herausgearbeitet. Hegel argumentierte, dass die Dialektik ein Prozess ist, bei dem eine These (eine Aussage oder ein Konzept) auf eine Antithese (eine entgegengesetzte Aussage oder ein entgegengesetztes Konzept) trifft und diese beiden Ideen schließlich zu einer Synthese (einer neuen Aussage oder einem neuen Konzept) verschmelzen. Im Gegensatz zur Dialektik gibt es bei der Dekonstruktion keine Synthese oder Lösung für Widersprüche. Stattdessen wird die Bedeutung von Texten als instabil und widersprüchlich betrachtet Während Hegels Dialektik darauf abzielt, Widersprüche aufzulösen, zielt die Dekonstruktion darauf ab, sie zu betonen oder zu verstärken.
Ich bin Anhänger der klassischen Dialektik als Denkprinzip. Sie wurde übrigens nicht von Hegel erfunden, sondern ihren Ursprung in der Philosophie des antiken Griechenlands hat (Platon und Aristoteles).
Dekonstruktion als Partyspiel
Dekonstruktionen eignen sich nicht als Partyspiel. Bei Derridas Différance handelt es sich nach seinen eigenen Worten um „empirisches Umherirren“. Siehe die Fortsetzung seines Zitats von oben:
Ich kann einem philosophischen Konzept ohne Zentrum und ohne Finalität wenig abgewinnen. Das Derrida-Sprachspiel hat immer einen völlig ungewissen Ausgang. Es ist so, als wenn man ein Boot bemannt und es ohne Kompass und Steuerruder aufs Meer hinausschickt. Manchmal führt es zu wichtigen neuen Entdeckungen, oft führt solch eine Reise in den Tod.
Wer würde schon ein Partyspiel mit Handgranaten spielen? Die sehen schön aus und fassen sich gut an, explodieren aber bei unvorsichtigem Gebrauch.
Philipp Stoellger (Theologieprofessor, Heidelberg) nennt die Dekonstruktion Derridas „eine versponnene Form der Komplikation und Verwirrung“.
Ich bin weit davon entfernt davor zu warnen, sich mit Begriffen, Aussagen und (scheinbaren?) Widersprüchen zu beschäftigen. Ich halte da allerdings die dialektische Methode für deutlich konstruktiver und für Geist und Seele gesünder.
Dekonstruktion als Erfahrung
Wie schon gesagt, rate ich keinesfalls vom Nachdenken über schwierige Begriffe und Aussagen ab. Sonst wäre meine Doktorarbeit in Mathematik sicher nie fertig geworden. Aber Dekonstruktion als Verfahrensweise bei der Sinnsuche führt meines Erachtens nicht weiter. Was aber, wenn die Dekonstruktion uns als Erfahrung, als Phänomen ereilt, wenn das, was uns sicher schien (z.B. Gottesbild, Bibelverständnis), sich durch Ereignisse als unsicher bzw. instabil herauszustellen scheint?
Abbildung 1 – Haus in Deutschland gemäß der dekonstruktivistischen Architektur
Falls „das alte Haus“ zusammenstürzen sollte, empfehle ich nicht auch noch das Grundstück zu verkaufen, auf dem es stand. Das Grundstück, das Fundament, ist die Basis für ein Neubauprojekt. Das „neue Haus“ mag dann Ergebnis einer Rekonstruktion (vergleichbar mit dem Projekt Berliner Schloss) sein, es kann aber auch eine Re-Formation erfahren. Als Christ bin ich zuversichtlich, dass unser Grund-Stück, das Evangelium von der Erlösung durch den Tod von Jesus Christus am Kreuz tragfähig für das Lebenshaus eines jeden und einer jeden ist.
Dekonstruktion als Erkenntnis
Der Erkenntnisbegriff geht davon aus, dass es eine objektive Realität gibt, die durch menschliche Erkenntnis erfasst werden kann. Derrida hat betont, dass seine Philosophie keine Theorie oder Methode zur Erkenntnisgewinnung ist, sondern vielmehr eine kritische Methode, die darauf abzielt, unsere Annahmen und Vorurteile zu hinterfragen und uns bewusst zu machen, dass unsere Interpretationen von Texten nicht objektiv oder neutral sind. In diesem Sinne kann man sagen, dass Derridas Konzept der Dekonstruktion keine spezifische Theorie der Erkenntnis ist, sondern vielmehr eine Methode der Analyse und Interpretation von Texten.
Auch die Hermeneutik hat hier ihre Grenzen: Sie kann eine Form der Erkenntnis liefern, die sich auf das Verstehen von Texten und menschlichem Dasein konzentriert, ist aber auch keine Erkenntnistheorie (Epistemologie). Die klassische Erkenntnistheorie fragt danach, was Wissen ist, wie wir zu Erkenntnissen kommen, nach den Quellen der Erkenntnis. Weiterhin fragt sie, welchen Wahrheitsanspruch wir hinsichtlich des aus der Erkenntnis gewonnenen Wissens erheben können. Es gibt verschiedene Quellen der Erkenntnis in der Erkenntnistheorie. Eine wichtige Quelle ist die Wahrnehmung mit unseren Sinnen. Eine weitere Quelle ist die Vernunft. Außerdem sind als Quellen der Erkenntnis Introspektion, Induktion, und Schlussfolgerung sowie die Bezeugung durch andere zu nennen.
Mir ist bei der Beschäftigung mit Dekonstruktion und Hermeneutik deutlich geworden, dass sie nur einen kleinen Beitrag zur Erkenntnis (der Wahrheit) liefern können. Die Erkenntnistheorien sind mehrheitlich vernunftlastig (insbesondere die von Kant). Dagegen ist erstmal nichts zu sagen, allerdings glaube ich, dass das vernunftgemäße Erkennen sowie das Erkennen mit unseren Sinnen nicht ausreichend für ein umfassendes Erkennen von Realität und Wahrheit ist. Als Christ suche ich meinen Bezug in der Bibel, und die ist ziemlich erkenntnistheoretisch, betont allerdings andere Quellen der Erkenntnis (siehe Johannes 8):
Wir haben uns hier viel mit Texten und deren Interpretation befasst. In diesem Bibelabschnitt behauptet Jesus Christus, dass wir die Wahrheit erkennen werden, wenn wir in seinem Wort bleiben oder (nach einer anderen Übersetzung) an seinen Worten festhalten. Meines Erachtens und meiner Erfahrung gemäß sind die Texte Jesu Christi die wichtigsten Quellen der Erkenntnis. Es bleibt die Aufgabe diese Worte zu verstehen. Wie schon erwähnt, empfehle ich nicht die Dekonstruktion. Und auch die Hermeneutik hat ihre Grenzen, denn sie ist ebenfalls vernunftlastig. Wir brauchen darüber hinaus den Kanal der spirituellen Erkenntnis, der Inspiration.
Exkurs: Spirituelle Dialektik
Die “Spirituelle Dialektik” von Thomas von Aquin (Mönch und Philosoph, 1225 – 1274) ist ein Konzept, das sich auf die Verbindung zwischen der menschlichen Seele und Gott bezieht. Es ist ein wichtiger Bestandteil seiner Philosophie und Theologie. Aquin glaubte, dass die menschliche Seele in der Lage ist, Gott zu erkennen und zu verstehen, indem sie die Welt um uns herum betrachtet.
Ich möchte hier – ohne zu widersprechen – unter spiritueller Dialektik etwas Anderes verstehen. Ausgehend von der Grundidee der klassischen Dialektik – Auflösung von These und Antithese mittels Synthese – möchte ich abschließend die metaphysische bzw. spirituelle Dimension der Synthesefindung ins Spiel bringen (siehe Abbildung).
Abbildung 2 – Das Kreuz der spirituellen Dialektik
In der klassischen Dialektik ist Synthese ein Zustand, bei dem These und Antithese zu einer neuen, übergeordneten Einheit vereinigt werden. Es geht um die Aufhebung des Konflikts zwischen These und Antithese. Das Besondere an der Synthese ist, dass sie einen neuen Zustand schafft, der aus These und Antithese hervorgeht und diese gleichzeitig aufhebt. Kant sagt, dass die Synthese „durch eine aktive Leistung des Verstandes“ entsteht. Es ist zu begrüßen, wenn das funktioniert. Aber wir bewegen uns hier durchgängig in der Ebene der Vernunft (ratio).
Spirituelle Dialektik dagegen ist transrational, rechnet mit metaphysischer Inspiration. Wo Menschen beim Anstreben einer Synthese scheitern, kann Gott durch den Heiligen Geist eine Synthese inspirieren.
Beispiel: ein Klassiker der christlichen Theologie, der Konflikt zwischen liberalen (progressiven) und konservativen Anschauungen bzw. Einstellungen. Die Lösung ist nicht der klassische Kompromiss, d.h. der eine wird weniger liberal und die andere weniger konservativ. Die Lösung ist die Synthese auf einer höheren Ebene, im Sinne der spirituellen Ebene einer Synthese, die aus dem Hören auf Gott kommt oder – anders gesagt – durch die Inspiration des Heiligen Geistes. Und meine Auffassung ist, dass die Synthese auf spiritueller Ebene einen Namen hat, nämlich Jesus Christus. Nur wenn wir in der christlichen Gemeinde unser Zentrum, Jesus Christus, finden, uns bei ihm versammeln, werden wir unsere unterschiedlichen Thesen nicht nur aushalten, sondern in unsere Beziehung zu Jesus Christus einbetten können.
Rainer Rumpel hat an der Freien Universität Berlin Mathematik, Physik, Erziehungswissenschaften und Philosophie studiert.