Die Grundlagen der Dekonstruktion und ihre Anwendung in Theologie und Christentum

Dr. rer. nat. Rainer Rumpel

Oktober 2023

Begriffsgeschichte

Den Begriff der Dekonstruktion gab es im 20. Jahrhundert (vor allem in der Architektur) schon vor der Verwendung durch den französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004). Historisch knüpft der Begriff der Dekonstruktion unter anderem an Martin Heideggers Verwendung der Begriffe „Konstruktion“ und „Destruktion“ (Sein und Zeit, 1927) und deren methodischer Verschränkung an. Derrida verwendete den Begriff „Dekonstruktion“ erstmals 1967 (Die Stimme und das Phänomen), und zwar im Kontext der Philosophie.

Dekonstruktion“ nach Derrida ist kein Instrumentarium, kein Regelwerk, keine Methode. Aber was ist sie dann?

„Dekonstruktion“ nach Derrida kann man nicht denken ohne „différance“. Es ist ein von Derrida geschaffenes Kunstwort (Neologismus), welches die strukturalistische différence von Signifikant (Bezeichner) und Signifikat (Bezeichnetes) – gemäß Saussures Semiotik, siehe Abbildung –

aufnimmt und eine Beziehung zu dem französischen Wort „différer“ herstellt. Dieses hat zwei verschiedene Bedeutungen. Das Wort beschreibt unter anderem die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben (zeitliche Perspektive). Derrida nennt das diesbezügliche Substantiv „Temporisation“. Der Neologismus différance soll dabei sowohl den Vorgang der Verräumlichung als über-tragene (altgr.: δια-φέρειν) Bedeutung, als auch den Vorgang der Verzeitlichung eines Begriffs bzw. eines Zeichens einschließen.

Was ist der Kern von Derridas Philosophie?

Man kann die Antwort eigentlich in einem Wort geben: Différance! Was soll das bedeuten? Derrida versteht Différance als Denkweise. Différance ist der zentrale Begriff (besser gesagt der „Clou seiner Konzeption“) seiner Philosophie, von der Derrida behauptet, dass sie kein Begriff ist, sondern das Spiel des fortwährenden „Sich-Unterscheidens“ durch Aufschübe und Widersprüche und des ­„gegenseitigen Verweisens“ der Signifikanten aufeinander. Das Spiel der Différance hat kein erkennbares Zentrum und keine klar auszumachende Hierarchie. Bedeutung ist von daher immer „relational“, niemals absolut. Sein philosophisches Konzept der Différance entwickelt sich nicht „nach einem einfachen Prinzip, nach Postulaten, Axiomen oder Definitionen verfährt“ („Die différance“, 1990). Und kurz danach heißt es dort dann noch über sein philosophisches Konzept …

Mit diesem Ansatz steht Derrida außerhalb der bisherigen Philosophiegeschichte. Als Postulate versteht Immanuel Kant (1724-1804) Annahmen, die von der Vernunft gefordert sind und die notwendigen Voraussetzungen für den Gebrauch sowohl der theoretischen als auch der praktischen Vernunft handelt. Postulate sind diejenigen Annahmen oder Voraussetzungen, unter denen der Vernunftgebrauch erst möglich ist.

Derridas Différance-Konzept ist also so etwas wie eine Anti-Philosophie im Sinne der klassischen Philosophie. Das wird besonders deutlich, wenn wir einem der großen Pioniere der Philosophie, Aristoteles, nachspüren. Wissenschaftliche Erkenntnis besteht ihm zufolge in der schrittweisen Ableitung („Deduktion“) von wahren Aussagen aus gewissen ersten Prinzipien, die von Aristoteles als „Axiome“ bezeichnet werden. Gemäß Aristoteles sind die vernunftbegabten Lebewesen dadurch besonders ausgezeichnet, dass sie in der Lage sind, sich Ziele zu setzen. Es sind „teleologische Wesen“. Auf dieses Zielsetzen verzichtet Derrida.

Im engeren Sinne betreibt Derrida mit der Dekonstruktion nicht Philosophie, sondern, wie er selbst sagt, ein Spiel mit Begriffen und deren Relationen, man könnte auch sagen eine linguistische Spielerei. Sein „Axiom“ (er würde es nicht so bezeichnen) ist das Konzept der Différance, das er als gültig ansieht.

Dekonstruktion und Hermeneutik

Die Hermeneutik (altgriechisch ἑρμηνεύειν hermēneúein, deutsch ‚erklären‘, ‚auslegen‘) ist die Theorie der Interpretation von Texten, egal ob philosophischer, theologischer oder politischer Art. Als Wissenschaftstheorie wurde sie hauptsächlich von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) eingeführt. Sie geht davon aus, dass die zu untersuchende Welt, zu der Texte einen direkten Zugang darstellen, eine sinnhafte Struktur besitzt. Auf diese Grundannahme verzichtet die Dekonstruktion (siehe oben).

Gemeinsam gehen beide Ansätze davon aus, dass

  • Texte mehrdeutig sind,
  • eine veränderliche Bedeutung haben und
  • deren Bedeutung vom Kontext abhängig ist.

Die Hermeneutik betont eher den kulturellen und historischen Kontext, während die Dekonstruktion eher den sprachlichen Kontext heranzieht. Die Hermeneutik setzt auf die „Rekonstruktion“ des Textes, zielt also auf die ursprüngliche Bedeutung des Textes ab, während die Dekonstruktion die ursprüngliche Bedeutung von Texten in Abrede stellt.

Dekonstruktion als Methode

Man wird Derrida nicht gerecht, wenn man Dekonstruktion als philosophische oder linguistische Methode bezeichnet, und er distanziert sich von dieser Sichtweise. Er beabsichtigt keine Technik der Texterklärung, sondern eher ein Denkkonzept zur Texterklärung (wobei der Begriff „Text“ auch Gesprochenes umfasst).

Die Methode der Dekonstruktion ist ein kritisches Hinterfragen und Auflösen eines Textes im weiteren Sinn. Sie wird oft auch als Dekonstruktivismus bezeichnet. Ein zentraler Protagonist dieser Methode war Paul de Man (1919-1983) mit seiner „Yale Critics“, der amerikanische Variante der Dekonstruktion (siehe „Allegorien des Lesens“, 1979). Seine dekonstruktivistische Interpretationsmethode basiert auf den Ideen von Derrida. Begriffe werden in Frage gestellt und – bei Beachtung des Kontexts – versteckte Bedeutungen gesucht. In Abgrenzung zur Hermeneutik wird nicht nach ursprünglicher Bedeutung gesucht.

Dekonstruktion in Christentum und Theologie

Dekonstruktive Theologie (siehe John Caputo, Radikale Hermeneutik, 1987) zielt darauf ab, die Widersprüche und Paradoxien in religiösen Texten (Christentum, Judentum usw.) aufzudecken und zu untersuchen. Die Anwendung der Dekonstruktion in der Theologie hinterfragt und erweitert die Bedeutung von religiösen Texten, indem sie die Grenzen traditioneller Interpretationen überschreitet.

In christlichen Kreisen hat sich in den letzten Jahren der Begriff „Dekonstruktion“ weitgehend ohne Reflexion von Derridas Theorie durchgesetzt, um Prozesse zu bezeichnen, bei denen Christen ihren Glauben hinterfragen und sich von bestimmten Glaubensüberzeugungen trennen. Postevangelikalismus ist ein Begriff, der sich auf eine Bewegung ehemaliger Anhänger des Evangelikalismus bezieht, die sich aus theologischen, politischen oder kulturellen Gründen vom evangelikalen Christentum distanziert haben Die meisten, die sich als postevangelikal bezeichnen, sind immer noch Anhänger des christlichen Glaubens in irgendeiner Form.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

  1. Derridas dekonstruktives Konzept verzichtet auf Prinzipien, Axiome und Endzweck (telos) im Sinne der klassischen Philosophie und setzt stattdessen auf den Neologismus „Différance“. Sie verwirft damit Eckpfeiler der Philosophie von Aristoteles bis Kant.
  2. Différance wird verstanden als Sprachspiel mit Begriffen, bei dem davon ausgegangen wird, dass Sprache und Texte keine festen Bedeutungen haben, sondern dass ihre Bedeutungen durch die Art und Weise, wie sie verwendet werden bzw. in Beziehung stehen, temporär konstruiert werden. Texte besitzen laut Derrida keine absolute Identität, keinen absoluten Sinn. Folglich ist es nicht relevant, die „ursprüngliche Aussage“ in Texten zu erforschen. Bei Umsetzung des Différance-Konzepts von Derrida wird es also nur temporär gültige Ergebnisse bei der Begriffsanalyse geben.
  3. Während das wissenschaftstheoretische Konzept der Hermeneutik (Lehre von der Auslegung und Erklärung eines Textes) von einem „geraden“, eindeutig erfassbaren Sinn ausgeht, ist der Sinn in der Dekonstruktion „ungerade“ und vielschichtig.
  4. Die dekonstruktivistische Methode (Dekonstruktivismus) entspricht nicht der Intention Derridas, hat aber das Konzept von Derrida aufgegriffen. Sie hat sich aber über die Yale School (de Man) etabliert. Sie wird unter anderem auf Texte in der Philosophie, Literatur, Theologie und Politik angewendet.
  5. Da der Dekonstruktivismus keine endgültigen Antworten oder festen Regeln liefert, sondern eher eine Methode des kritischen Denkens ist, können die Ergebnisse je nach individueller Perspektive unterschiedlich (subjektiv) ausfallen. Einige mögen die Dekonstruktion als befreiend empfinden, da sie traditionelle Ansichten in Frage stellt. Andere könnten sie als verwirrend oder sogar als Bedrohung für etablierte Ordnungen und Systeme empfinden.
  6. Es ist wichtig anzumerken, dass die Subjektivität der Ergebnisse nicht bedeutet, dass sie beliebig oder willkürlich sind. Die Dekonstruktion basiert auf einer sorgfältigen Analyse von Texten und Konzepten sowie auf einem Verständnis der historischen und sozialen Kontexte. Dennoch bleibt Raum für verschiedene Interpretationen und Perspektiven, was zu subjektiven Ergebnissen führen kann.
  7. Dekonstruktive Theologie hat zum Ziel, die Widersprüche und Paradoxien in religiösen Texten aufzudecken und zu untersuchen. Die damit verbundene theologische Methode hinterfragt und erweitert die Bedeutung von religiösen Texten nach dem Prinzip der „Différance“.
  8. Dekonstruktive Methodik und das Konzept der Différance nach Derrida lassen sich nicht voneinander trennen, denn die Grundideen der Methodik stammen aus Derridas Dekonstruktionsprinzip.

Persönliche Einschätzung

Dekonstruktion als philosophisches Konzept

Derrida versteht Dekonstruktion als die kritische Infragestellung des. Systems binärer Begriffe (Anwesenheit / Abwesenheit, Geist / Körper, Kultur / Natur etc.). Das ist nichts Neues in der Philosophie. Sehr deutlich hat das Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in seiner Dialektik herausgearbeitet. Hegel argumentierte, dass die Dialektik ein Prozess ist, bei dem eine These (eine Aussage oder ein Konzept) auf eine Antithese (eine entgegengesetzte Aussage oder ein entgegengesetztes Konzept) trifft und diese beiden Ideen schließlich zu einer Synthese (einer neuen Aussage oder einem neuen Konzept) verschmelzen. Im Gegensatz zur Dialektik gibt es bei der Dekonstruktion keine Synthese oder Lösung für Widersprüche. Stattdessen wird die Bedeutung von Texten als instabil und widersprüchlich betrachtet Während Hegels Dialektik darauf abzielt, Widersprüche aufzulösen, zielt die Dekonstruktion darauf ab, sie zu betonen oder zu verstärken.

Ich bin Anhänger der klassischen Dialektik als Denkprinzip. Sie wurde übrigens nicht von Hegel erfunden, sondern ihren Ursprung in der Philosophie des antiken Griechenlands hat (Platon und Aristoteles).

Dekonstruktion als Partyspiel

Dekonstruktionen eignen sich nicht als Partyspiel.  Bei Derridas Différance handelt es sich nach seinen eigenen Worten um „empirisches Umherirren“. Siehe die Fortsetzung seines Zitats von oben:

Ich kann einem philosophischen Konzept ohne Zentrum und ohne Finalität wenig abgewinnen. Das Derrida-Sprachspiel hat immer einen völlig ungewissen Ausgang. Es ist so, als wenn man ein Boot bemannt und es ohne Kompass und Steuerruder aufs Meer hinausschickt. Manchmal führt es zu wichtigen neuen Entdeckungen, oft führt solch eine Reise in den Tod.

Wer würde schon ein Partyspiel mit Handgranaten spielen? Die sehen schön aus und fassen sich gut an, explodieren aber bei unvorsichtigem Gebrauch.

Philipp Stoellger (Theologieprofessor, Heidelberg) nennt die Dekonstruktion Derridas „eine versponnene Form der Komplikation und Verwirrung“.

Ich bin weit davon entfernt davor zu warnen, sich mit Begriffen, Aussagen und (scheinbaren?) Widersprüchen zu beschäftigen. Ich halte da allerdings die dialektische Methode für deutlich konstruktiver und für Geist und Seele gesünder.

Dekonstruktion als Erfahrung

Wie schon gesagt, rate ich keinesfalls vom Nachdenken über schwierige Begriffe und Aussagen ab. Sonst wäre meine Doktorarbeit in Mathematik sicher nie fertig geworden. Aber Dekonstruktion als Verfahrensweise bei der Sinnsuche führt meines Erachtens nicht weiter. Was aber, wenn die Dekonstruktion uns als Erfahrung, als Phänomen ereilt, wenn das, was uns sicher schien (z.B. Gottesbild, Bibelverständnis), sich durch Ereignisse als unsicher bzw. instabil herauszustellen scheint?

Abbildung 1 – Haus in Deutschland gemäß der dekonstruktivistischen Architektur

Falls „das alte Haus“ zusammenstürzen sollte, empfehle ich nicht auch noch das Grundstück zu verkaufen, auf dem es stand. Das Grundstück, das Fundament, ist die Basis für ein Neubauprojekt. Das „neue Haus“ mag dann Ergebnis einer Rekonstruktion (vergleichbar mit dem Projekt Berliner Schloss) sein, es kann aber auch eine Re-Formation erfahren. Als Christ bin ich zuversichtlich, dass unser Grund-Stück, das Evangelium von der Erlösung durch den Tod von Jesus Christus am Kreuz tragfähig für das Lebenshaus eines jeden und einer jeden ist.

Dekonstruktion als Erkenntnis

Der Erkenntnisbegriff geht davon aus, dass es eine objektive Realität gibt, die durch menschliche Erkenntnis erfasst werden kann. Derrida hat betont, dass seine Philosophie keine Theorie oder Methode zur Erkenntnisgewinnung ist, sondern vielmehr eine kritische Methode, die darauf abzielt, unsere Annahmen und Vorurteile zu hinterfragen und uns bewusst zu machen, dass unsere Interpretationen von Texten nicht objektiv oder neutral sind. In diesem Sinne kann man sagen, dass Derridas Konzept der Dekonstruktion keine spezifische Theorie der Erkenntnis ist, sondern vielmehr eine Methode der Analyse und Interpretation von Texten.

Auch die Hermeneutik hat hier ihre Grenzen: Sie kann eine Form der Erkenntnis liefern, die sich auf das Verstehen von Texten und menschlichem Dasein konzentriert, ist aber auch keine Erkenntnistheorie (Epistemologie). Die klassische Erkenntnistheorie fragt danach, was Wissen ist, wie wir zu Erkenntnissen kommen, nach den Quellen der Erkenntnis. Weiterhin fragt sie, welchen Wahrheitsanspruch wir hinsichtlich des aus der Erkenntnis gewonnenen Wissens erheben können. Es gibt verschiedene Quellen der Erkenntnis in der Erkenntnistheorie. Eine wichtige Quelle ist die Wahrnehmung mit unseren Sinnen. Eine weitere Quelle ist die Vernunft. Außerdem sind als Quellen der Erkenntnis Introspektion, Induktion, und Schlussfolgerung sowie die Bezeugung durch andere zu nennen.

Mir ist bei der Beschäftigung mit Dekonstruktion und Hermeneutik deutlich geworden, dass sie nur einen kleinen Beitrag zur Erkenntnis (der Wahrheit) liefern können. Die Erkenntnistheorien sind mehrheitlich vernunftlastig (insbesondere die von Kant). Dagegen ist erstmal nichts zu sagen, allerdings glaube ich, dass das vernunftgemäße Erkennen sowie das Erkennen mit unseren Sinnen nicht ausreichend für ein umfassendes Erkennen von Realität und Wahrheit ist. Als Christ suche ich meinen Bezug in der Bibel, und die ist ziemlich erkenntnistheoretisch, betont allerdings andere Quellen der Erkenntnis (siehe Johannes 8):

Wir haben uns hier viel mit Texten und deren Interpretation befasst. In diesem Bibelabschnitt behauptet Jesus Christus, dass wir die Wahrheit erkennen werden, wenn wir in seinem Wort bleiben oder (nach einer anderen Übersetzung) an seinen Worten festhalten. Meines Erachtens und meiner Erfahrung gemäß sind die Texte Jesu Christi die wichtigsten Quellen der Erkenntnis. Es bleibt die Aufgabe diese Worte zu verstehen. Wie schon erwähnt, empfehle ich nicht die Dekonstruktion. Und auch die Hermeneutik hat ihre Grenzen, denn sie ist ebenfalls vernunftlastig. Wir brauchen darüber hinaus den Kanal der spirituellen Erkenntnis, der Inspiration.

Exkurs: Spirituelle Dialektik                                                                                          

Die “Spirituelle Dialektik” von Thomas von Aquin (Mönch und Philosoph, 1225 – 1274) ist ein Konzept, das sich auf die Verbindung zwischen der menschlichen Seele und Gott bezieht. Es ist ein wichtiger Bestandteil seiner Philosophie und Theologie. Aquin glaubte, dass die menschliche Seele in der Lage ist, Gott zu erkennen und zu verstehen, indem sie die Welt um uns herum betrachtet.

Ich möchte hier – ohne zu widersprechen – unter spiritueller Dialektik etwas Anderes verstehen. Ausgehend von der Grundidee der klassischen Dialektik – Auflösung von These und Antithese mittels Synthese – möchte ich abschließend die metaphysische bzw. spirituelle Dimension der Synthesefindung ins Spiel bringen (siehe Abbildung).

Abbildung 2 – Das Kreuz der spirituellen Dialektik

In der klassischen Dialektik ist Synthese ein Zustand, bei dem These und Antithese zu einer neuen, übergeordneten Einheit vereinigt werden. Es geht um die Aufhebung des Konflikts zwischen These und Antithese. Das Besondere an der Synthese ist, dass sie einen neuen Zustand schafft, der aus These und Antithese hervorgeht und diese gleichzeitig aufhebt. Kant sagt, dass die Synthese „durch eine aktive Leistung des Verstandes“ entsteht. Es ist zu begrüßen, wenn das funktioniert. Aber wir bewegen uns hier durchgängig in der Ebene der Vernunft (ratio).

Spirituelle Dialektik dagegen ist transrational, rechnet mit metaphysischer Inspiration. Wo Menschen beim Anstreben einer Synthese scheitern, kann Gott durch den Heiligen Geist eine Synthese inspirieren.

Beispiel: ein Klassiker der christlichen Theologie, der Konflikt zwischen liberalen (progressiven) und konservativen Anschauungen bzw. Einstellungen. Die Lösung ist nicht der klassische Kompromiss, d.h. der eine wird weniger liberal und die andere weniger konservativ. Die Lösung ist die Synthese auf einer höheren Ebene, im Sinne der spirituellen Ebene einer Synthese, die aus dem Hören auf Gott kommt oder – anders gesagt – durch die Inspiration des Heiligen Geistes. Und meine Auffassung ist, dass die Synthese auf spiritueller Ebene einen Namen hat, nämlich Jesus Christus. Nur wenn wir in der christlichen Gemeinde unser Zentrum, Jesus Christus, finden, uns bei ihm versammeln, werden wir unsere unterschiedlichen Thesen nicht nur aushalten, sondern in unsere Beziehung zu Jesus Christus einbetten können.

Rainer Rumpel hat an der Freien Universität Berlin Mathematik, Physik, Erziehungswissenschaften und Philosophie studiert.

Delta-Infektionswelle – was nun?

Zunächst einmal eine Anmerkung zum letzten Eintrag: ein impfskeptischer Geimpfter? Nun, das ist gar nicht so schwer zu erklären. Ein Skeptiker ist ein zu Skepsis neigender Mensch. Ein Skeptiker (von griechisch  skeptikós) ist wörtlich übersetzt ein Ausschauhaltender oder Untersuchender. Oder mit dem griechischen Verb gesprochen: er bzw. sie späht, betrachtet, erwägt, prüft. Als Naturwissenschaftler habe ich gelernt, dass diese Haltung eminent wichtig ist. Man ist geradezu verpflichtet zum Zweifeln. Wenn man nicht kritisch ist, kann man nicht „kritein“, also beurteilen, sondern bleibt in seinen Vorurteilen hängen. (Sorry für diesen Ausflug ins Altgriechische).

Wir dürfen und sollen Vorteile und Nachteile, Risiken und Chancen abwägen. Und so ergab sich für mich das Ergebnis eines impfskeptischen Geimpften.

Individuelle Freiheit

Die individuelle Freiheit des Bürgers ist ein hohes Gut. Diese Freiheit sichern die Rechte im Grundgesetz. Sie dienen dem Einzelnen dazu, seine sozialen Interessen zu verfolgen. Im Rahmen der Entfaltung der Persönlichkeit dienen sie tendenziell eher dem Individuum als der Allgemeinheit. Wenn der Staat diese Freiheitsrechte einschränkt, so begibt er sich in Gefahr die Gesellschaft zu spalten oder die Identifizierung etlicher mit dem Staat zu riskieren (typische Beispiele: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit).

Haben diese Grundwerte der Demokratie ihre Grenzen? Der Staat kann Grundrechte – nur wenn das Grundgesetz es ausdrücklich erwähnt – durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes einschränken. Hier lohnt sich ein Blick in Artikel 2 unseres Grundgesetzes:


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.


Dieser Artikel hat seit 1949 denselben Wortlaut. Absatz 2 macht also klar, dass ein Infektionsschutzgesetz an sich nicht verfassungswidrig ist. Es wird erkennbar, dass Einschränkungen in gesundheitlichen Notlagen für uns als einzelne Bürger in einer demokratischen Gesellschaft mit diesem Grundgesetz grundsätzlich hinzunehmen sind (wenn sie verhältnismäßig sind). Nun wird – zu Recht – viel darüber gestritten, welche Maßnahmen vertretbar, gut, angemessen, inakzeptabel sind. Ich bin ein Anhänger des Prinzips „so wenig Einschränkung wie möglich“. Aber es gilt meines Erachtens eben auch „so viel Einschränkung wie nötig“.

An die anderen denken

Ich bin kein Politiker, ich habe auch nicht den vollen Überblick, um behaupten zu können, was richtig ist, was man darf oder sollte. Daher möchte ich eher auf der ethisch-moralischen Ebene argumentieren.

Zunächst einmal gilt: wenn das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ gesichert werden soll, sollte jeder Mensch in unserem Lande selbst entscheiden können, ob er sich gegen SARS-CoV-2 impfen lässt oder nicht („Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“).

Als geimpfter Impfskeptiker habe ich mich ja zum Thema Impfung und Impfstoff bereits geäußert. Es sind persönliche Vorteile und Nachteile, Risiken und Chancen abzuwägen.

In unserem Grundrechtsartikel heißt es aber auch weiterhin: „…Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt…“). In einer Infektionswelle wie der derzeitigen mit Rekordzahlen an Infektionen sollten wir nochmal nachdenken, ob es bei der Impfentscheidung dann nach wie vor allein um die Abwägung der persönlichen Vorteile und Nachteile, Risiken und Chancen geht. Das Solidaritätsprinzip bedeutet ja, dass ein Bürger nicht allein für sich verantwortlich ist, sondern sich die Mitglieder der Gesellschaft gegenseitig Hilfe und Unterstützung gewähren.

Gemäß dem Tagesreport des DIVI-Intensivregister (www.intensivregister.de) vom 26.11.2021 sind nur noch 10 % der intensivmedizinischen Betten in Deutschland nicht belegt. Zwanzig Tage zuvor waren es noch 12%. Da in den Intensivstationen mehr Ungeimpfte als Geimpfte in Corona-Behandlung sind, möchte ich dazu ermuntern zu betrachten, ob nicht persönliche Bedenken bezüglich der Impfung – auch gegenüber dem Staat oder der Pharmaindustrie – dem Allgemeinwohl untergeordnet werden können oder sollten – ungewohnte Gedanken in unserer Zeit.

Es gibt auch das Argument, dass ja das Gesundheitssystem selbst schuld sei, denn die Anzahl der Intensivbetten sei in den letzten Jahren reduziert worden.  Die Reduzierung hat tatsächlich stattgefunden. Nach Angaben des statistischen Bundesamts (www.gbe-bund.de) ist die Anzahl der Betten in den Jahren 2016 bis 2019 (für 2020 liegen noch keine Zahlen vor) tatsächlich um mehr als 1.000 zurückgegangen (Stichwort: Pflegenotstand). Bei aller Skepsis gegenüber dem Gesundheitssystem und der Gesundheitspolitik habe ich meine Zweifel, ob dieses Argument stark genug ist, um sich auf eine rein individualistische Position zurückzuziehen.

Ich wünsche uns allen für die Adventszeit eine Entspannung der Lage. Ich versuche meine Kontakthäufigkeit zu reduzieren und hoffe gleichzeitig, dass ich das Bewusstsein dafür behalte, dass das kein erstrebenswerter Normalzustand ist.

Leseempfehlung; Philipper 2, 2-5 (Bibel)

Auf der schiefen Ebene

Zur Klärung vorneweg: ich bin Impfskeptiker und vollständig gegen Corona geimpft (erster Trigger zum Nachdenken).

Derzeit steigt die Corona-Inzidenz erneut stark an und erreicht Höchstwerte. Ein Drittel der Corona-Patienten auf Intensivstationen ist vollständig geimpft. Ein Drittel der Menschen, die derzeit an oder mit SARS-COV-2 sterben, sind vollständig geimpft. Für mich ist das eine herbe Enttäuschung. Unsere Hoffnung war doch, dass wir uns mit einem zugelassenen Wirkstoff impfen lassen und dann sicher sind. Offensichtlich bleiben die Impfwirkung(en) nicht mal neun Monate bestehen.

Die Schuldigen an dieser Misere sind schnell ausgemacht: die Umgeimpften! Der Vorsitzende eines wichtigen Verbands, Weltärztepräsident Montgomery, verstieg sich zu der Aussage von der „Tyrannei der Ungeimpften“! Man vergleiche mit §130 Volksverhetzung.

Ja, natürlich sind die Ungeimpften eine Herausforderung für die Gesellschaft. Aber als noch herausfordernder kann es sich herausstellen, dass die Impfstoffe schon nach wenigen Monaten an Wirkung verlieren, so Christian Drosten kürzlich in der Berliner Zeitung.

Auf wen sollen wir nun schimpfen? Auf die Ungeimpften, auf die Impfstoffhersteller, auf die Politiker? Jeder kann sich heraussuchen, wen er möchte. In Wirklichkeit müssten wir auf die Deltavariante schimpfen, die offensichtlich deutlich ansteigender ist als die Vorgängervarianten. Aber es lässt sich schlecht auf einen mikroskopisch kleinen, faktisch unsichtbaren Virus schimpfen! Viele hatten auf Herdenimmunität gehofft, Immunität durch Ansteckung, und wir müssen nun feststellen, dass einige Menschen, die an Corona erkrankt waren, sich erneut infiziert haben. Also auch hier Enttäuschung! So sind wir also mit unserer Wut und Hilflosigkeit weiter auf der Suche nach Opfern…

Ein weiterer Versuch des Krisenmanagements ist nun die 2G-Regelung, also den Ausschluss von Ungeimpften aus diversen Veranstaltungen. Man kann darüber streiten, ob 3G mit 2G gleichwertig ist. Aber was sind die gesellschaftlichen Konsequenzen aus 2G? Es handelt sich um die systematische Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe, initiiert nicht durch Extreme, sondern durch demokratische Politiker! Es wird gesagt, dass es sich nicht um Diskriminierung handele, denn jeder hätte ja die Chance sich impfen zu lassen. Das renommierte Paul-Ehrlich-Institut hat in seinem Sicherheitsbericht vom 10.06.2021 zum Beobachtungszeitraum Dezember 2020 bis Mai 2021 vermerkt, dass 8.134 schwerwiegende Reaktionen infolge Coronaimpfungen gemeldet wurden und 873 tödlich verliefen. Das ist nicht wenig und das ist nicht viel im Verhältnis zur Gesamtzahl der Impfungen. Aber die Zahlen sind allemal hoch genug, um Menschen zuzugestehen, dass sie der Impfung skeptisch gegenüberstehen. Man nennt die zugehörigen Vorgänge in unserem Kopf und unserer Seele auch Risikobewertung. Ich habe mich für das Impfen entschieden, weil ich den potentiellen Nutzen für höher als den potentiellen Schaden einschätze.

Eine demokratische Gesellschaft muss es aushalten, dass es immer wieder Minderheiten gibt, die für die Mehrheit unbequem sind. 2G bedeutet, dass man das nicht mehr aushalten will. Könnte es sein, dass wir uns auf einer schiefen Ebene weg vom freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hin zu einer „Diktatur der Mehrheit“ befinden? Ich bin hinsichtlich Impfung Vertreter der Mehrheit und bitte darum nicht das demokratische Mehrheitsprinzip zu missbrauchen, um unliebsamen Bevölkerungsgruppen ihre Rechte zu nehmen. Wir müssen im Gespräch bleiben…

Selten in letzter Zeit wurden uns Menschen so deutlich unsere Grenzen vor Augen geführt. Vielleicht schaffen wir doch nicht alles allein. Leseempfehlung: Psalm 121.

Wehe uns!

Oh weh! Das kennen wir aus unserem Sprachbrauch. Auch in der Bibel gibt es Weherufe. Aber was bedeutet das Wort eigentlich? Im Wortbedeutungswörterbuch heißt es: Die Interjektion „wehe“ ist ein Ausruf der Bestürzung, der Klage, des Kummers, und des Leids.

Wir leben in einer Zeit, wo mich – obwohl ich nicht als besonders emotional extrovertiert gelte – doch ein erhebliches Maß an Bestürzung und Kummer ergreift. Kummer und Bestürzung über die Entwicklung in unserer Welt. Und ich verspüre das Bedürfnis, meinen inneren Zustand mit Wehe-worten auszudrücken.

Wehe den Schwergläubigen, die nicht mehr vertrauen können, die geübt sind in Unterstellungen und Vorurteilen gegenüber Autoritäten und Verantwortlichen, denn ihr Leben wird seine Stabilität und Zuversicht verlieren.

Wehe den Leichtgläubigen, die ungeprüft die Botschaften von klassischen und Onlinemedien aufsaugen, denn ihr Lebensschiff wird wie ein Boot im Wind hin- und hergeworfen.

Wehe den Einseitigen, die verlernt haben, sich ein differenziertes Bild von Geschehnissen und Interpretationen zu machen, denn sie meinen die Wahrheit erkannt zu haben, ohne sie zu erkennen.

Wehe den Allseitigen, die es sich angewöhnt haben, alle Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Meinungen für sich pluralistisch als gut zu werten, denn sie verlieren den Lebenskompass.

Wehe den Intoleranten, die sich selbst als Maßstab für Gut und Böse setzen und dem Nächsten sein Recht auf andere Meinung absprechen, denn sie können nicht mit Gottes Nachsicht rechnen.

Wehe denen, die nicht mehr zwischen gut und bösen unterscheiden, denn sie werden ihr Lebensruder verlieren.

Wehe den Hasspredigern, die ihren Zorn Andersgläubigen oder Andersdenkenden entgegenschreien, denn sie werden ernten, was sie gesät haben.

Wehe denen, die keine Botschaft mehr für ihr Leben haben, denn sie wird die Sinnlosigkeit befallen.

Nicht zufällig heißt der Teufel in der griechischen Sprache Diabolos, der Durcheinanderbringer. Die Welt gerät zunehmend durcheinander. Ich komme angesichts der Botschaften, die verbreitet, der Geschehnisse, die berichtet werden, durcheinander.

Menschen werden sortiert in Impfbefürworter und Impfgegner, in Trumpisten und Nicht-Trumpisten, in Linke und Rechte, in „Einheimische“ und Immigranten – in Menschen und Unmenschen?

Letzteres hatten wir ja schon mal in Deutschland: Da gab es die Menschen und – die Juden. Wenn wir da wieder ankommen, sehen wir in den Abgrund unserer (Un-)Menschlichkeit, dann siegen Gewalt, Tyrannei, Hass und Verblendung, dann ist alles durcheinandergebracht.

Ich habe zu viel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte.
Martin Luther King

Ich bitte die Impfbefürworter: Versteht die Bedenken der Impfgegner!

Ich bitte die Impfgegner: Versteht, dass die Impfbefürworter den Nutzen ihrer Impfung höher einschätzen als den Nutzen der Ablehnung der Impfung.

Ich bitte die Trumpisten, dass sie bereit sind, aus den Rastern ihres Denkens herauszutreten und die vielfältigen Aspekte von Wahrheit und Unwahrheit wahrzunehmen.

Ich bitte die Linken und die Rechten, die in ihrer Gesinnung extrem geworden sind, dass sie die Menschenwürde höher achten als ihre Ziele.

Ich bitte die „Einheimischen“ darüber nachzudenken, wie viele Immigranten oder Flüchtlinge sich in ihrem Familienbaum befinden und wie viele Immigranten oder Flüchtlinge sie schon bereit waren kennen zu lernen.

Ich bitte die Immigranten und Flüchtlinge nicht aufzuhören sich in die Gesellschaft zu integrieren und die Zuversicht nicht wegzuwerfen, auch wenn die Familie in der Ferne ist.

Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen.

Martin Luther King

Lügenpresse?

Der Begriff

Rechtspopulistische Kreise haben den Begriff „Lügenpresse“ vor einigen Jahren adoptiert. Gemeint sind damit hauptsächlich die linken bzw. liberalen Medien oder auch die öffentlich-rechtlichen Medien.

Wie sich die Zeiten ändern: Für mich als West-Berliner war zu Mauerzeiten die Lügenpresse klar verortet: Die National-Zeitung als verlängerter Arm der NPD und „Die Wahrheit“ als Presseorgan der SEW (analog zur SED im Osten). Warum hatten nun Sprachwissenschaftler „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres 2014 erhoben? Die Jury-Vorsitzende Nina J.: „Eine solche pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit.“

Der Begriff hat Historie: Er wird schon über 100 Jahre verwendet, und Adolf Hitler schrieb 1922: „Für die Marxisten gelten wir dank ihrer Lügenpresse als reaktionäre Monarchisten“.

Objektivität – ein Exkurs

Man kann definieren, dass Objektivität die unvoreingenommene und vorurteilsfreie Feststellung und Verarbeitung von Tatsachen ist. Damit ist man in Gesellschaft diverser Wissenschaftler.

Von dem Philosophen John Locke stammt andererseits die folgende Versuchsbeschreibung: Es werden drei Gefäße aufgestellt. Links wird kaltes Wasser eingefüllt, rechts ziemlich heißes. Das mittlere Gefäß wird hälftig mit kaltem und ziemlich heißem Wasser gefüllt. Zwei Hände eines Menschen werden zunächst links und rechts eingetaucht und nach einiger Zeit schließlich gleichzeitig in das mittlere Gefäß. Die linke Hand empfindet das Wasser als warm, die rechte Hand empfindet das Wasser als kühl. Der Mensch empfindet also das Phänomen Wassertemperatur subjektiv.

Daher bemüht man sich in der Physik um objektive Messungen mittels zuverlässiger Messgeräte. Aber selbst dann gibt es „Nebenwirkungen“: Führe ich ein kaltes Thermometer in heißes Wasser ein, so ist es logisch, dass mit dem Ablesen der Temperatur gewartet wird, bis das Thermometer die Temperatur des umgebenden Wassers angenommen hat. Man kann allerdings leicht übersehen, dass es sich in Wirklichkeit um ein Angleichen der Temperaturen handelt, indem dem zunächst kühlen Thermometer Umgebungswärme zugeführt wird. Im Ergebnis ist das heiße Wasser nicht mehr so heiß wie vorher, man misst also ein verändertes System. Ähnlich verhält es sich, wenn man in einem elektrischen Stromkreis die Stromstärke messen möchte. Man benötigt die Einfügung eines entsprechenden Messgeräts. Aber mit der Einfügung wird auch hier das System verändert, denn (auch) das Messgerät hat einen Widerstand, und somit gibt das Gerät eine Stromstärke an, die nicht ganz der „eigentlichen“ Stromstärke entspricht.

Objektivität der Medien

Betrachten wir nun das System Gesellschaft. Medien kann man als Messgeräte des Gesellschaftssystems verstehen. Nehmen wir zum Beispiel die Messgröße Gerechtigkeit. Gemessen wird durch Menschen, mit Interessen und Wertideen, individueller Sozialisation und individuellen Lebenserfahrungen. Wir haben es folglich mit „Messungen“ zu tun, die der Objektvitätsdefinition nicht gerecht werden. Die Voreingenommenheit und Vorurteilsbehaftung von uns Menschen macht das Handeln der Medien zu einem klar subjektiven Prozess.

Nun wird deutlich, dass der Begriff „Lügenpresse“, egal ob er von linken oder rechten Gruppen verwendet, aus Vernunftperspektive unsinnig ist, denn Medien können durch ihre Propagandisten grundsätzlich immer nur subjektive, interessengeleitete bzw. erfahrungsgeleitete „Wahrheit“ produzieren. Der Begriff ist nicht mehr und nicht weniger als ein ideologischer, politischer Kampfbegriff, um bestimmte Menschengruppen zu diffamieren. Liebe Leser, ich finde, wir sollten nicht auf solche Propagandamethoden hereinfallen.

Einseitiges Lesen und vorschnelles Urteilen ist nicht weise

Ich kenne einige Leute, die meines Erachtens vorschnell Nachrichten verbreiten. Schon öfters hat sich herausgestellt, dass die Nachrichten keine Primärquellen besaßen, zum Teil nicht der Wahrheit entsprachen oder veraltet waren, aber als aktuell präsentiert wurden.

Bei Medienberichten aller Art bemühe ich mich darum, eine kritische Distanz einzunehmen und Darstellungen nicht gleich zu übernehmen, sondern im Zweifelsfall mehrere Medien zu vergleichen (z.B. nicht WELT oder Frankfurter Rundschau, sondern WELT und Frankfurter Rundschau; nicht FOCUS oder Spiegel, sondern FOCUS und Spiegel). Das gilt für die öffentlich-rechtlichen Medien genauso wie für Youtube-Kanäle.  Ich will mich nicht durch mein Leseverhalten oder meinen Medienkonsum vor einen bestimmten Karren spannen lassen. Denn kein Mensch, also auch kein Medium, berichtet objektiv.

Liebe Leser, ist es nicht eine spannende Aufgabe wahrzunehmen, dass verschiedene Medien über das gleiche gesellschaftliche Phänomen, das gleiche „Gefäß warmes Wasser“ zum Teil sehr unterschiedlich berichten? Es lohnt sich durch eigenes Nachdenken und ergänzende Gepräche im Freundes- oder Familienkreis Schlüsse zu ziehen!

Der Ochse und der Karren

Eine gute Nachricht: Am 13. Oktober 2018 soll in Berlin für eine offene und freie Gesellschaft demonstriert werden, die Solidarität statt Ausgrenzung lebt. Das klingt gut, und es gibt viele Organisationen, die mitziehen, unter anderem AMNESTY INTERNATIONAL und die Diakonie Deutschland. Es soll ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt werden.

Mir ist wichtig, vor welchen Karren ich mich spannen lasse. Und da zeigt sich, dass der Initiator und Veranstalter der Rechtsanwalt Lukas Theune ist. Herr Theune ist Mitglied beim Verein Rote Hilfe e.V.. Die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern ordnen die Rote Hilfe als linksextremistische Organisation ein und werfen ihr die Unterstützung von Gewalttätern vor.

Was nun? Hingehen oder wegbleiben? Ich persönlich möchte mich nicht vor einen linken Karren spannen lassen. Wenn ich das aber nicht mache, dann sehe ich mich in der Pflicht einen anderen Karren zu suchen oder zu bauen, um als „Ochse“ meiner Bestimmung nachzukommen. Denn auch ich möchte Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung setzen und mich für ein solidarisches, offenes und freies Deutschland einsetzen…

Wer sind die Totengräber der Demokratie?

Herausbefördert

Rauf und runter wurde in den Medien der „Fall Maaßen“ diskutiert.  Am 17.9. war dann in den Medien zu lesen und zu hören: Maaßen wird abgelöst – und zum Staatssekretär befördert. Nicht nur bei mir stellte sich Fassungslosigkeit ein. Im August 2018 erwähnte ich den historischen Tiefststand der  CSU.  Aber es geht noch tiefer: nach neuesten Umfragen liegt die CDU/CSU bundesweit mittlerweile unter 30%, und die AfD ist dabei die SPD zu überholen. Nun liegt es nahe und es ist nachvollziehbar angesichts des Schmierentheaters der letzten Tage mit Schadenfreude oder Wut zu reagieren und die eigene Politikverdrossenheit zu hätscheln. Ich finde aber, dass die Vorgänge der letzten Monate in der Regierung eher ein Anlass sein sollten, das wir alle uns neu darauf besinnen sollten, was politische Tugenden sind, die unsere Gesellschaft stabilisieren, und da fällt mir zum Beispiel das Suchen des Gemeinwohls und das Anstreben von Fairness und Gerechtigkeit ein. Es ist traurig, dass die Bürger derzeit regierenden Politikern Vorbild werden müssen. Traditionell hofft man auf eine umgekehrte Situation.

Ein radikales Ausweichen nach links oder rechts ist keine Lösung, denn dann sägen wir an dem Ast, auf dem wir selber sitzen: dem Rechtsstaat. Eine solche Entwicklung zum erbarmungslosen Unrechtsstaat hatten wir schon mal Anfang der dreißiger Jahre. Dann wird das Volk durch Radikalisierung zum Totengräber der Demokratie. Schlimm genug, dass derzeit absurderweise einige Regierungspolitiker diese Rolle wahrnehmen!

Schlimm, dass es wieder Leute gibt, die auf Demos den Hitlergruß zeigen und schlimm, dass es in Deutschland mittlerweile vier antisemitische Straftaten  pro Tag gibt. Da muss der Staat hart und streng reagieren, und wir sind aufgerufen zu Zivilcourage!

MENSCHENWÜRDE, DEMOKRATIE UND NATIONALISMUS

„Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung für den anderen Menschen auferlegt.“ Dietrich Bonhoeffer
Bei uns gilt seit fast 70 Jahren das Grundgesetz. Viele sind geprägt von Sätzen wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ oder „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Ich finde das gut und wichtig.
Seit einigen Jahren erleben wir in Europa, dass rechtspopulistische bzw. nationalistische Strömungen und Parteien mehr Zulauf bekommen. Man kann den Eindruck bekommen, dass die demokratischen Gesellschaftsformen und Werte immer weniger gewürdigt werden. Das lässt sich auch in Deutschland beobachten.
In den Jahren 2015 und 2016 hatte sich der Zustrom von Flüchtlingen nach Europa kriegsbedingt verstärkt. Viele Menschen reagieren auf fremde Menschen mit einer anderen Kultur ängstlich. Daraus entsteht eine Abwehrhaltung. Ich empfehle aus eigener Erfahrung das Kennenlernen solcher Menschen. So werden Ängste und Abwehrreaktionen abgebaut. Niemand sollte sich allerdings der Illusion hingeben, dass diese Menschen durch und durch „lieb und gut“ seien. Das ist ja bei uns deutschen Staatsbürgern auch nicht der Fall. Es sind Menschen wie Du und ich, mit Stärken und Schwächen.
In unser Land kommen Kriegsflüchtlinge, politisch oder religiös Verfolgte und solche, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen haben. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Zahl der Flüchtlinge in Zukunft auf eine unbedeutende Zahl zurückgehen wird. Ich glaube, dass eine zu hohe Zahl von Zuwanderern eine Gesellschaft destabilisieren kann und somit ein Sog zum Wählen rechtsnationalistischer Parteien entsteht. Aber was ist die Schlussfolgerung? Wie in Polen und Ungarn die Tore für Flüchtlinge und Zuwanderer schließen? Nein, hier werden Menschenrechte vorenthalten. Da wir Menschen Menschen sind, gilt es zweierlei zu beachten: die begrenzte mentale Tragkraft der einheimischen Bevölkerung zu respektieren und gleichzeitig nicht Tendenzen nachzugeben, die das Asylrecht von Schutzsuchenden aushöhlen. Was ist aber mit denen, die bei uns aus wirtschaftlicher Not ihr Glück suchen wollen? Zunächst einmal habe ich Verständnis für ihr Verhalten. Andererseits muss die Politik so aufgestellt sein, dass hier ein klar geregelter Wanderungsvorgang existiert (Einwanderungsgesetz). Um der Stabilität der demokratischen Systeme in Europa willen können die meisten dieser Menschen kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten. Vielmehr sollten wir reichen Länder unsere Bemühungen verstärken, in Regionen wie Afrika eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, insbesondere in Ländern, die die Menschenrechte achten und gegen Korruption vorgehen. Solange der wirtschaftliche Potenzialunterschied zwischen den Entwicklungsländern und den entwickelten Ländern so groß ist wie jetzt, wird der Zustrom aus den armen Ländern nicht nachlassen.
Wir leben in einer Zeit, wo der Nationalismus wieder gesellschaftliche Akzeptanz bekommt. Nationalismus ist wie Sozialismus und Kapitalismus eine Ideologie, also ein Wertesystem zur Rechtfertigung und Bewertung von Handlungen. Der Nationalismus setzt weniger auf christliche oder humanistische Werte wie Menschenwürde, Gleichberechtigung und Hilfsbereitschaft, sondern auf nationale Werte wie Nations- bzw. Volkszugehörigkeit. Man gehört zusammen, weil man die gleiche Fahne schwenkt. Ich halte es für normal, wenn wir uns mit dem Land identifizieren, in dem wir wohnen. Wenn dieser Umstand aber das zentrale identitätsstiftende Merkmal wird, sind wir auf einer gefährlich schiefen Ebene. Der Nationalismus hat zu zwei Weltkriegen geführt!
Wenn nun noch Leute wie Horst Seehofer als vermeintlich demokratische Politiker ihren Einfluss geltend machen und das Flüchtlingsthema nutzen, um die Bundeskanzlerin in unwürdiger Weise und respektlos zu erpressen – und ich meine hier weniger die Person, sondern das Amt des Bundeskanzlers, dann macht mich das sehr besorgt, denn hier wird mit der Stabilität unseres demokratischen Systems leichtfertig gespielt. Wie das ist, wenn die Demokraten die Demokratie nicht geeignet verteidigen und stabilisieren, wissen wir Deutschen aus der Vergangenheit nur zu gut. Ach ja: Die CSU hat durch diese Aktion nichts gewonnen, sondern ist beim Wähler auf einem historischen Tiefststand.
Ich lebe von Geburt an Gott sei Dank in einem freiheitlich-demokratischen Gesellschaftssystem. Ich konnte durch Reisen und Information Vergleiche ziehen zu autoritären und autokratischen Systemen wie beispielsweise China, Russland und Türkei. Ich muss nicht erst Deutschland als totalitäres System kennen lernen, um die Demokratie wieder schätzen zu lernen. Da nehme ich auch in Kauf, dass es einige Politiker gibt, die eher ihren Eigennutz als das Wohl des Landes suchen. Das ist ja in allen Ländern so.
Ich möchte nicht zur „schweigenden Mehrheit“ in der Mitte der Gesellschaft gehören, daher schreibe ich.